Zur Klarnamendiskussion

Ich beobachte an mir eine Alterserscheinung: ich beginne, gelegentlich „aus Erfahrung“ zu sprechen. Das ist nicht immer gut: wer aus Erfahrung spricht, vergleicht möglicherweise lieber einen aktuellen Sachverhalt mit einem oberflächlich ähnlichen Sachverhalt aus der Vergangenheit als dass er sich die aktuelle Situation genauer ansieht.

Eine der Debatten, die oberflächlich betrachtet immer wieder kommt, ist jene um die Verwendung von Klarnamen* im Internet. Diese Diskussion gab es schon zu Zeiten des Usenet in den 90ern (hier ein Beispiel aus einer Newsgroup) und seither einige weitere Male. Die Argumente gegen eine Klarnamenpflicht, die angeführt werden, sind fast immer ähnlich. Dauerbrenner darunter: Anonymität gestattet es, freier über Dinge zu sprechen, die beispielsweise einem Arbeitgeber nicht gefallen könnten.

Die Forderung nach der Verwendung von Klarnamen wird oft mit mangelnder Diskussionskultur begründet. Beispielsweise schrieb ORF-Anchorman Armin Wolf unlängst auf Twitter

Habe beschlossen, dass ich ab sofort auf Mentions von anonymen oder offensichtlich gefakten Accounts nicht mehr reagieren werde und sie auch gleich blockiere. Ich mag nicht mit Vermummten diskutieren und mich von anonymen Trollen auch nicht anagitieren lassen.

(Update: Armin Wolf betont, er habe keine Klarnamenpflicht gefordert.) Der Grund dafür mögen also ein paar Tweets solcher User sein. Die Ursache liegt woanders: Twitter und auch Facebook und ein paar weitere große Social Media-Dienste bürden den betroffenen Usern selbst die Last auf, mit Nazis, Spinnern, Trollen, Bots, Fake-(Shill-)Accounts, Astroturfing und so weiter fertig zu werden. Sie kümmern sich bloß dann um Inhalte, wenn sie gegen die eigenen, in vielen Punkten sehr lose gefassten Richtlinien verstoßen und von jemandem gemeldet wurden. Das ist einer guten Diskussionskultur nicht förderlich.

Dass es auch anders geht, zeigen einige weitere Onlinedienste. Ihnen gemeinsam ist ein funktionierendes System der Moderation. User können Diskussionsbeiträge positiv oder negativ bewerten. Moderatoren bekommen Werkzeuge in die Hand, mit denen sie die Einhaltung der guten Diskussionskultur – früher: Netiquette – forcieren können und eventuell sogar Astroturfing und Fake-Accounts erkennen können. Moderatoren können dies professionell machen (z.B. für Onlinemedien) oder auf freiwilliger Basis (z.B. reddit). Dazu sind Klarnamen normalerweise nicht erforderlich.

Twitter und Facebook haben solche Moderatoren nicht (und stellen ihren Usern auch keine entsprechenden Werkzeuge zur Erkennung und Bekämpfung von Astroturfing, Shills, Fake-Accounts und dergleichen zur Verfügung). Die Forderung nach einer Klarnamenpflicht ist ein – in meinen Augen untauglicher – Versuch, die Nachteile dieser fehlenden Moderation zu verringern. Dort liegt der Hund begraben.


* Klarnamen sind Namen, die wie echte bürgerliche Namen aussehen. (Es wird kaum kontrolliert, ob die User tatsächlich so heißen – Prominente ausgenommen.)